Umparken im Kopf
Man könnte es auch so ausdrücken: Ehrfurchtsloser kann einer von sich nicht sagen, dass er Maler sei. Wohl ist man als halbwegs erfahrener Museumsbesucher so manche despektierliche Kunstbehauptung gewöhnt. Niemand bleibt mehr irritiert vor Duchamps Readymades stehen. Denn das hat man doch gelernt, dass die Kunst seit hundert Jahren nicht mehr heilig sein will, und sich ihr Verehrungsanspruch in nichts von anderen Gegenständen guter Unterhaltung unterscheidet. Aber auch das hat man gelernt, dass noch keine Unterbietung von Form und Norm das kunstbetriebliche Einvernehmen nachhaltig gestört hat. Und nie ist man das Gefühl losgeworden, all den Verweigerern im Namen Dadas könnte es mit der Verweigerung dann doch nicht so ernst gewesen sein.
Nur bei Francis Picabia zögert man mit dem Verdacht. Er ist der Radikalste von allen. Wenn er sagt "La terre est ronde", dann meint er es auch so. Weshalb es kaum ausbleiben konnte, dass sich die große Werkübersicht im Zürcher Kunsthaus wie ein Lehrstück in Zynismus mit Methode anfühlt. Schon beim Wort Werk sträuben sich einem die Haare. Häufiger als Picabia hat keiner die Kleider getauscht. "Wenn man saubere Ideen haben will, soll man sie so oft wechseln wie ein Hemd", hat er 1921 sein Reinheitsgebot formuliert. Und das meint nicht einfach umziehen und Stil behalten. Seine Travestien alle paar Jahre muten in einer Weise extrem an, als sei es darum gegangen, den Maler, an den man sich knapp gewöhnt hatte, bis zur Unkenntlichkeit zu verstecken.
Dass der junge Mann impressionistisch begonnen hat, sich rasch auf die Seite der Fauvisten schlug und eine Zeit lang in Kubismus machte, gehört noch zu den harmlosesten Kehren – eher typisch für die Ende des 19. Jahrhunderts geborene Künstlergeneration, die wie keine zuvor in die Dynamik der Entwicklungen geriet.
Auch wenn solche avantgardistische Ruhelosigkeit im Nachhinein ein wenig wie Pubertätsgehabe aussehen mag, trug sie doch zum raschen Ruhm des Malers bei. Bereits 1913 gehört er zur europäischen Jungkunst-Abordnung, die auf der berühmten Armory Show den Amerikanern beibringt, was state of the art ist. Im gleichen Jahr stellt ihn Alfred Stieglitz in seiner einflussreichen New Yorker Galerie 291 aus. So – ohne bemerkenswerte Vorleistungen – wird Picabia zum Mitspieler bei den beschleunigten Ereignissen, ist mit allen bekannt und befreundet, die das künstlerische Sagen haben – von Picasso über Juan Gris, Fernand Léger bis zu Marcel Duchamp. Und als die Zürcher Dada-Leute in ihre Papiertrompeten pusten, wird das schräge Signal unverzüglich in Paris empfangen und Picabia zu einem der umtriebigsten Kunstspötter in Wort und Bild. Dass er dann bald wieder fahnenflüchtig wird und sein Bestes als Surrealist gibt, verwundert schon kaum noch. Eher lässt ein spätimpressionistisches Zwischenspiel aufhorchen, das dann in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg jählings in die Abstraktion mit gestreiften Mustern und luftballonähnlichen Kreisen übergeht.
Und für alles, für seine Launen und Erfindungen, hat er seine schönen Namen und noch schöneren Begründungen. Den Rückfall in den Altmeisterstil, bei dem sich ziemlich Botticelli-like nackte Frauen in Linien-Lianen verheddern, nennt der Maler, der längst zum bekennenden Dandy geworden ist, "Transparences". Auf den "Konturenstil" folgt der "Togastil", auf Liebespaare und Dämonen eine Galerie unglaublich salonesk gemalter Pin-ups, und weil man irgendwann einen Punkt machen muss, schließt das wundersam formlose Werk mit einer Gruppe pastos gemalter Monochromien voller bunter Punkte, dass es aussieht wie aufgenähte Knöpfe.
Es gab naturgemäß nicht viele, die es länger als eine Periode bei diesem seltsamen Künstler ausgehalten haben. Und die wenigen, die an seiner Seite blieben, versuchten verzweifelt, ein bisschen Verstehensmasse unter das luftige Bildermachen zu schichten. Eigentlich könne er es ja gar nicht so wörtlich meinen. Und die anzüglichen Bilder, die er für den damals offenkundig aufnahmefreudigen nordafrikanischen Markt fabrizierte, wären nichts anderes als Versorgungsstrategien für den bedürftigen Haushalt. "Miete-, Strom-, Gasbilder" hat später Martin Kippenberger, auch so ein Meisterschüler aus der verzweigten Picabia-Akademie, seine eigene, gut absetzbare Bilderware genannt. Der Franzose sagte es weniger salopp: "Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann."
Was auch ein Klassiker von Karl Kraus sein könnte, ist indes mehr als nur ein Bonmot. Immerhin muss ja auffallen, dass der Maler immer Maler geblieben ist und die dadaistischen Bildverhöhnungen nie wirklich mitgemacht hat. Mit unglaublicher Konsequenz beharrt Picabias Programm der schieren Programmlosigkeit auf dem Medium Malerei, das für ihn weder an unaufhaltsamem Auraverlust leidet, noch angestrengter "Ausstiege aus dem Bild" bedarf, um doch noch überleben zu können. Denn es lebt noch immer, es lebt erst recht, es mangelt ihm an nichts, es bietet Möglichkeiten auf allen Rängen, es feiert seine überraschendsten, seine heitersten, seine bösesten Triumphe, indem es sich immer neu entzieht und immer neu da ist und partout nicht verrät, ob für den frivolen Akt und das lässige Punktebild nicht doch das gleiche ironische Gen verantwortlich ist.
Man muss diese vergnügliche Ausstellung gesehen haben. Sie ist wie Hohn auf die Kunstgeschichte eines Jahrhunderts, die immer nur das eine oder das andere gelten lassen wollte, die rigide Kunstächtung oder die entschiedene Kunsterneuerung. Picabias dritter Weg erscheint wie virulentes Misstrauen gegenüber einem Moderne-Erbe, das heute nur noch Markt- oder Projektkunst kennt. Jedenfalls hat Marcel Duchamp kein Wort zu viel oder zu wenig gesagt, als er seinen Freund "als den größten Vertreter der Freiheit in der Kunst" beschrieb.