Ruhig mit Pathos
Ich treffe Kevin Rowland in seinem Viertel im Londoner East End, in einem veganen Restaurant. Er ist betont leger gekleidet, wirkt wie ein Bohemien ganz alter Schule, mit seinem Schnurr- und Kinnbart, den weiten Jeans, dem gestreiften Fisherman-Pullover und der großen, flachen Mütze, die ihm schräg auf dem Schädel sitzt. Ja, der Mann macht einen entspannten Eindruck. „Ich fühle mich gut", bestätigt er lächelnd. Denn sein neues Album sei genau so geworden, wie er es sich vorgestellt habe. „Ich habe mich darauf ganz nach meinen Vorstellungen ausgedrückt."
Das Album heißt Let the Record Show: Dexys Do Irish and Country Soul. Es handelt sich um eine ungewöhnliche Mischung, eine Auswahl irischer Balladen und anderer Songs, die, wie es im Klappentext heißt, „lose unter die Bezeichnung Country-Soul" fallen. Dazu gehören Cover-Versionen, etwa von Joni Mitchells Both Sides Now oder Rod Stewarts You Wear It Well. Was auch immer man sich unter der Genre-Bezeichnung „Country-Soul" vorstellen könnte – Rowland fasst den Begriff ziemlich weit. Aber bekanntlich hat er schon immer nach seiner eigenen Pfeife getanzt.
Irland als Reibungsfläche
Was die neuen Aufnahmen verbindet, ist die Tatsache, dass Rowland die Songs mag – und dass sie sich für die Art von kompromissloser Darbietung eignen, die sein Markenzeichen ist, seit er mit seiner Band, den Dexys Midnight Runners, im Jahr 1980 das programmatische Debütalbum Searching for the Young Soul Rebels veröffentlichte. Den ganz großen Durchbruch schaffte die Band – die nach einem Aufputschmittel namens Dextromethorphan benannt ist – 1982 mit Come On Eileen: Das Stück schoss auf Platz eins in den britischen und in den US-Charts und hielt sich auch in Deutschland fast drei Monate lang in den Top Ten.
- Alle Songs auf der neuen Platte sind genauso sehr ein Teil von mir, wie wenn ich sie selbst geschrieben hätte", sagt Rowland. Wie Dexys-Fans bestätigen werden, kann ihm, was gefühlvolle Eindringlichkeit angeht, so leicht niemand das Wasser reichen. Die jugendliche Wucht, die die ganz frühen Dexys-Stücke kennzeichnete, etwa Geno (1980), die Ode an den US- amerikanischen Soul-Helden Geno Washington, mag mit den Jahren ein wenig nachgelassen haben. Doch die Intensität des Rowland-Gesangs ist noch immer da und kommt nun in gereiften gesanglichen Leistungen zum Ausdruck, die stets am schmalen Grat zwischen Leidenschaft und Melodramatik tänzeln. Er singt ein Lied nicht nur, er schlüpft regelrecht in es hinein, so ähnlich wie ein Method Actor, der ganz in seiner Rolle versinkt. Kevin Rowland – der Gefühlsarbeiter. „Man muss in das Innere eines Songs vordringen. Man muss wissen, wer man ist und für wen man singt. Sonst ist es nicht glaubwürdig."
Als Beispiel nennt er die melancholische irische Ballade Carrickfergus:„Es handelt sich um die Worte eines Mannes, der weit gereist ist – ein irischer Wanderarbeiter, der auf der Suche nach einem Job zu Fuß von einer Stadt zur nächsten durch England zieht. Er lebt auf der Straße und schläft nachts im Freien. Bald wird er sterben, deshalb will er nach Irland zurückkehren, wo seine Liebe begraben liegt. Ich habe angefangen zu frieren, als ich im Studio stand und den Song einsang". Auf der Aufnahme kann man ihn tatsächlich husten hören, am Ende stößt er einen langen Seufzer aus. „Ich war gar nicht wirklich erkältet, es kam nur so aus mir heraus, und als ich die Aufnahme einem Freund vorspielte, sagte er, ich müsse das unbedingt drinlassen. Da wurde mir klar, dass das Husten und das Seufzen am Ende unzweifelhaft zu dem Song dazugehören."
Vor Rowland haben schon einige Kollegen von ihm den Klassiker gecovert, etwa Bryan Ferry und Van Morrison. Was Rowland live daraus macht, ist wirklich erstaunlich. Eine Woche nach unserem Treffen im East End erlebe ich Rowland auf der Bühne der Royal Festival Hall, als Teil von Imagining Ireland, einer buntgemischten musikalischen Feier anlässlich des hundertsten Jahrestages des Osteraufstandes von 1916. In einem blassrosa Anzug, wie man ihn in den 20er Jahren trug, mit den weitesten Hosenbeinen, die man sich vorstellen kann, reißt er das Publikum mit seiner Performance von Carrickfergus richtig mit.
Zu sentimental, zu viel Pathos: Der 62-Jährige kennt solche Vorwürfe. Wenn er darauf kontert, dringt ganz deutlich sein persönliches Klassenbewusstsein durch – und seine Streitlust: „Ich bin der Sohn eines Bauarbeiters, klar? Nicht der eines Intellektuellen. Meist handelt es sich bei Leuten, die meine Lieder sentimental finden, um verkopfte Typen, die den Kontakt zu sich selbst verloren haben und sich selbst nicht mehr spüren." Die irischen Lieder, die er jetzt aufgenommen hat, habe er ursprünglich zuerst in seiner irischen Familie gehört, „von meinen Onkeln und Tanten. Sie sangen sie ohne jede Begleitung, einfach nur so. Es war wunderschön."
Was die Frage aufwirft, warum er nicht gleich ein ganzes Album mit alten irischen Songs aufgenommen hat. „Die Idee dazu hatte ich tatsächlich schon mal, schon um 1983 herum", sagt Rowland. „Ich fuhr damals oft nach Mayo, von wo ich stamme." (Anm. d. Red: Das County Mayo ist eine Region in der Provinz Connacht, im Westen Irlands.) „Ich habe mich viel mit meinen Wurzeln beschäftigt, habe die irische Kultur entdeckt und bin auch nach Derry und Belfast gefahren, weil ich verstehen wollte, was dort vor sich ging." Unter dem schlichten Titel Irish habe er tatsächlich mal ein rein irisches Album herausbringen wollen, aber es sei eben nicht dazu gekommen.
Dennoch klangen – und klingen – Rowlands irische Wurzeln bei seiner Musik immer durch. Es fing schon mit dem ersten Album, Searching for the Young Soul Rebels, an: Auf dem Cover ist ein junger Mann zu sehen, der seine Habseligkeiten in den Armen hält, nachdem sein Haus in Belfast von einem sektiererischen Mob niedergebrannt wurde. Auf der wenig später erschienenen Single Dance Stance werden die Namen großer irischer Schriftsteller rezitiert. Und das bekannte Too-Rye-Ay – ein Ruf, der auch im Welthit Come On Eileen erklingt – geht auf die Tradtion der Celtic Travellers zurück, keltischer fahrender Leute.
Der Sohn irischer Eltern ist zwar in Wolverhampton, nördlich von Birmingham, geboren, verbrachte seine ersten vier Lebensjahre aber in Mayo, wo auch seine Eltern aufgewachsen waren, bevor die Familie dann wieder in die britischen West Midlands übersiedelte. „Ich erinnere mich daran, wie ich in die Schule kam und sich ständig alle über mich lustig machten", erzählt er. „Als ich zehn war, zogen wir von Wolverhampton nach London, und da war es sogar noch schlimmer. Iren waren damals nicht besonders gut angesehen. Um als Kind durchzukommen, musst du dich anpassen. Deshalb lernte ich schnell, mir verschiedene Akzente anzueignen."
Schwerer Filz, raue Wolle
Und heute? Fühlt er sich inzwischen eher britisch – oder ist der Ire in ihm über die Jahre sogar stärker geworden? „Es gab Zeiten, da wollte ich davon loskommen", sagt Rowland. Aber nun habe er das Irischsein nicht nur akzeptiert, er begrüße, ja er „umarme" es sogar. „Heute kann ich, glaube ich, aufrichtig sagen, dass ich mich wohl damit fühle, wo und wer ich bin. Ich halte eigentlich alle Identitäten für eine Sackgasse."
Rowlands Teenagerjahre waren schwierig, oft kam er mit dem Gesetz in Konflikt. Er neigte zu Aggressivität, einmal griff er eine ganze Gruppe von Männern mit einer Eisenstange an. Die Dexys Midnight Runners seien für ihn eine Möglichkeit gewesen, sein Gefühl der Entfremdung zu kanalisieren, sagt Rowland. Und er skizziert, wie er die Band ganz zu Beginn als eine Mischung aus Gang und Mannschaft führte und duchaus herrisch dabei vorging: Er stellte strenge Regeln auf, was körperliche Fitness und Kleidung betraf. Wollmützen und sogenannte Donkey Jackets aus grobem, schwerem Filz, zwei Klassiker aus der working class, normalerweise von Bau- und anderen Arbeitern getragen, waren für alle Mitglieder die Pflichtgarderobe. Und auch wenn der Bandname auf ein Amphetamin zurückgeht, verbot Rowland seinen Mitmusikern alle Formen von Drogen.
Auch sonst lehnte er alles ab, was gemeinhin als Rock’n’Roll galt oder damit in Verbindung gebracht wurde. Rowlands Sache ist der Soul. „Niemand sprach in den 80ern groß davon. Deshalb fand ich es cool. Der Soul hatte radikales Potenzial. Für mich kam er direkt nach Punk, er war neu und traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich liebte Soul! Aber heute denke ich, dass die Bezeichnung ein wenig zu eng gefasst war." Oder dass diese Genre-Bezeichnung zu oft missverstanden wird: „Tatsächlich wünschte ich mir manchmal, wir hätten das Wort Soul nie in den Mund genommen, denn sobald man etwas ein Label aufklebt, tötet man es."
Nach dem gewaltigen Erfolg von Come On Eileen und dem dazugehörigen Album Too-Rye-Ay habe er – mit einem Mal mitten im Mainstream gelandet – zunächst nicht mehr ein noch aus gewusst. „Ich fühlte mich als Außenseiter, der oft auch vergeblich an die Tür klopft, eigentlich ganz wohl", sagt er über diese Zeit. „Aber als die Tür dann plötzlich aufging und ich eintreten konnte, war ich völlig aufgeschmissen."
Kurz danach ging es dann steil für ihn nach unten. 1985 floppte das Album Don’t Stand Me Down ganz kolossal (auch wenn viele Dexys-Kenner es bis heute für sein eigentliches Meisterwerk halten). Rowland musste Insolvenz anmelden. Und eine Weile in einer Reha-Klinik verbringen. Aus nervlichen Gründen. Er hatte etwa einen Journalisten verprügelt, wegen einer unvorteilhaften Besprechung der Platte.
1999 hatte er dann eine kurze Phase als Dragqueen: Auf seinem Album My Beauty posierte er in Strapsen und Fummel, bei Festivalauftritten trug er Kleider und Lippenstift. Als er in dieser Aufmachung Whitney Houstons The Greatest Love of All zum Besten gab, reagierte das irritierte Publikum mitunter mit Buhrufen und Flaschenwürfen. Rowland distanzierte sich ein paar Jahre später von dieser „Phase". Dem Guardian sagte er 2003: „Vor vier Jahren war ich einfach völlig durch den Wind."
Erst 2012 gelang ihm mit den Dexys endlich ein Comeback, auch in der Kritikergunst, mit One Day I’m Going to Soar. In Interviews sprach er offen von seiner langwierigen Therapie, die ihm nicht nur half, von den – eben doch – konsumierten Drogen loszukommen, sondern auch von seinen Schuldgefühlen über sein früheres Verhalten. Heute fasst er sich zu diesem Punkt lieber kurz: „Für eine lange Zeit war ich nicht in der Lage, mich so auszudrücken, wie ich wollte. Ich habe Dinge ausprobiert, ohne dass sich kreativ etwas rührte. Ich glaube, mir war insgeheim klar, dass das, was ich damals tat, nicht gut genug war, um es der Welt zu präsentieren."
Mittlerweile „umarmt" er aber auch diese Erfahrung, so wie seine irischen Wurzeln: „Wahrscheinlich musste ich all diese Dinge durchmachen, um wieder die Musik machen zu können, die ich machen will. Das ist unglaublich hart, aber ich kann es trotzdem nur empfehlen – eine Auszeit von 20 Jahren oder wie lange es war." Manchmal müsse man eben einen Schritt zurück machen. Um dann wieder einen nach vorn zu kommen.